Zum Volkstrauertag: Erinnerung einer Zeitzeugin

Zum heutigen Volkstrauertag sowie zum 75. Jahrestag der Zerstörung der Orte in der Hellmitzheimer Bucht im Frühjahr 1945: Teil 2 des Augenzeugenberichts von Anni Wirsing.

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Vor 75 Jahren erreichte der von Hitler-Deutschland entfesselte Krieg auch die Orte zwischen Schwanberg und dem Tannenberg. Am 11. April 1945 flogen US-amerikanische Kampfflugzeuge einen Luftangriff auf Hellmitzheim. Schon Tage vorher fielen Granaten und Bomben auf das Dorf. Sechs Menschen kamen dabei ums Leben. Auch in den Nachbarorten Dornheim, Nenzenheim und Markt Einersheim herrschte in diesen Apriltagen Brand, Blut, Tränen und Elend.

Eine Augenzeugin erinnert sich

Vor wenigen Monaten hat die heute 91jährige Anni Wirsing ihre erschütternden Erlebnisse von damals in einen Zeitzeugenbericht verfasst. Diese Erinnerungen hat ihrer Tochter Renate aufgeschrieben.

Der Arbeitskreis Dorfarchiv vom Bürgerhaus Hellmitzheim e. V. bedankt sich für die Möglichkeit, diesen Augenzeugenbericht zu veröffentlichen.

*** Teil 2 von 2 | =>Link zu Teil 1 unten

Schutz im Eiskeller

… Der 11. April 1945 ist ein schöner, ruhiger Frühlingstag. Doch am Nachmittag hören wir einen ohrenbetäubenden Lärm, ausgelöst von Jagdbombern. Die Tiefflieger bewegen sich mit ihrer furchtbaren Ladung aus westlicher Richtung direkt und unaufhaltsam auf unser Dorf zu. Der unbeschreibliche Lärm erfüllt die Luft, die Feuerwehrsirene heult, panische Angst erfasst mich. Zusammen mit meiner Mutter, einigen Kindern von der Kinderlandverschickung, den Nachbarn Käufer und Schneider, flüchte ich in den Eiskeller unserer Gastwirtschaft. Er liegt noch weitere 15 Stufen tiefer als der normale Hauskeller und soll uns Schutz bieten. Wie versteinert und gelähmt vor Angst hören wir die Bomben und Granaten um uns einschlagen.

Die Hölle bricht los

Es splittert, kracht und zischt. Auch mit zugehaltenen Ohren ist der Lärm unerträglich und schrecklich. Die Hölle ist über unser einst friedliches Dorf eingebrochen. Mein Vater kommt erst jetzt zu uns zurück und wird durch den Druck einer Bombe mit voller Wucht die Kellertreppe hinunter geschleudert. Seine Schreie sind entsetzlich.

Erst als die bedrohlichen Donnergeräusche langsam nachlassen, trauen wir uns von unserem Unterschlupf ins Freie nach draußen. Gott sei Dank ist unser Haus nicht zerstört worden, denn im tiefen Eiskeller wären wir nicht mehr gefunden worden.

Alles brennt, sogar die Straßen

Ich werde den Anblick, den ich oben vor Augen habe, nie mehr im Leben vergessen können. Alles um mich herum brennt. Soweit ich sehen kann, stehen die Scheunen von Familie Maul und Käufer in Flammen.

Für mich ist besonders schmerzlich, dass auch unsere schöne Kirche in Hellmitzheim, in der ich erst im vergangenen Jahr meine Konfirmation gefeiert habe, lichterloh brennt. Auch die Kirchenburg ist ein Raub der Flammen. Mein Vater stammelt neben mir, dass er im ersten Weltkrieg als Soldat in vier Jahren nicht so viel Furchtbares erlebt hatte, wie jetzt in unserem Hellmitzheim.

Ein furchtbar beißender, stinkender Rauch brennt in den Augen. Alles schreit und rennt und will retten, was zu retten übrig geblieben ist. Mir scheint, als würde selbst die Straße brennen. Durch die abgeworfenen Phosphorbomben schlängelt der brennende Phosphor überall auf den Straßen entlang.

Die im April 1945 zerstörte Dorfkirche in Hellmitzheim.
Foto überreicht von Georg Rechter an das Dorfarchiv Hellmitzheim.

Die Mädchen der Feuerwehr arbeiten bis zur totalen Erschöpfung

Nachdem die erste Schockstarre überwunden ist, wird mit dem Löschen des brennenden Phosphors auf der Straße begonnen. Das Eindringen des Feuers in die angrenzenden Höfe soll unbedingt verhindert werden. Das Löschwasser wird aus dem Brunnen von Familie Johann Mandel gepumpt. Unermüdlich wird beinahe zwei Tage lang daraus geschöpft. Über eine gebildete Kette werden die Wassereimer von Mann zu Mann, von Frau zu Frau weiter bis zum Brandherd gereicht. Auch meine Schwester Reta und die Mädchen der Feuerwehr arbeiten bis zur totalen Erschöpfung mit. Der Brunnen von Familie Mandel versiegt nach zwei Tagen und braucht einige Zeit, bis er sich erholt.

Ich erinnere mich auch noch, wie Fritz Zobel mit anderen Bauern das viele verbrannte Vieh, Rinder, Schweine, Schafe und unterschiedliches Federvieh in den folgenden Tagen zum Adelsberg in den Steinbruch abtransportierten. Das Vieh wird auf zusammengenagelten Brettern geladen. Die Transporthilfen werden von Pferden gezogen, die die Feuersbrunst überlebt haben. Tagelang liegt ein beißender, stinkender Verwesungsgeruch in der Luft.

Es dauert einige Zeit, bis sich die ersten Männer wieder in unserer Gastwirtschaft auf ein Glas Bier treffen. Das Gesprächsthema ist immer das Gleiche. Wir alle sind traumatisiert und schockiert von diesen furchtbaren, bitteren Erlebnissen dieses 11. April 1945.

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Möge Gott den nachfolgenden Generationen derartige Ereignisse und Erlebnisse für immer ersparen und in den gegenwärtigen Kriegsgebieten überall auf der Erde endlich Frieden einkehren.

Anni Wirsing, geborene Lindner

Hellmitzheim, im Frühjahr 2o2o

Anni Wirsing, geborene Lindner (Bildmitte, stehend). Im Hintergrund das elterliche Gasthaus „Zum Grünen Baum“. Foto überreicht von Lotte Zobel an das Dorfarchiv Hellmitzheim

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Teil 1 wurde hier unter „Aktuelles“ auf hellmitzheim.de bereits am 11. November 2o2o veröffentlicht: => https://hellmitzheim.de/2020/11/11/april-1945-eine-zeitzeugin-erinnert-sich/#more-10075

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Titelfoto: Hellmitzheim im April 1945 | Dorfarchiv Hellmitzheim